Das mutige und außergewöhnliche Werk des US-amerikanischen Malers
war eines der meistdiskutierten
seiner Zeit. Guston brachte als Erster die Figur in die amerikanische
Nachkriegsmalerei, leistete durch die Verbindung von „hoher Kunst“ und Bildern
der Populärkultur Bahnbrechendes und wird heute als Vorreiter der postmodernen
figürlichen Malerei gefeiert. Anlässlich des 100. Geburtstages des Künstlers
zeigt die Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 6. November 2013 bis 2. Feburar 2014
das Spätwerk von Philip Guston und damit einen Meilenstein der amerikanischen
Malerei. Mit einer Auswahl von rund 80 Gemälden und Zeichnungen vereint die
Ausstellung bedeutende Leihgaben aus dem Museum of Modern Art, New York, dem
Centre Pompidou, Paris, oder dem Stedelijk Museum, Amsterdam.
Im Laufe der 1950er-Jahre fasste der Autodidakt Guston in der New
Yorker Kunstszene Fuß und wurde zu einem der wichtigsten Vertreter des
Abstrakten Expressionismus mit >> Jackson Pollock, Willem de Kooning oder >> Mark Rothko * 1903 Daugavpils † 1970 New York Ende der 1960er-Jahre begann eine intensive Phase des Zeichnens. Diese
gipfelte schließlich innerhalb seiner Malerei zu einem Bruch mit dem
„Reinheitsgebot“ der Abstraktion: Guston führte derbe Figuren und
Figurenfragmente in seine Werke ein; rauchend, trinkend, nicht selten auch
malend bevölkern sie die in den Farben Pink, Rot, Schwarz und Blau gehaltenen
Leinwände. Große Köpfe, behaarte Beine, klobige Schuhe und allerlei
Architekturfragmente wie Mauern, Türen und Glühbirnen gehören zu Gustons
Motiven, die an Comics der 1920er-Jahre erinnern. Seine Bilder werden häufig
als Vorläufer des „Bad Painting“ verstanden. Die großformatigen Werke begegnen
dem Betrachter mit unvermittelter Vehemenz. Der formalen Schwere, inhaltlichen
Offenheit und scheinbaren Verrätselung liegen eine
tiefgründige Sensibilität und weitreichende inhaltliche wie malerische
Überlegungen des Künstlers zugrunde. Die erste Ausstellung dieser mit
anarchischem Sinn für Humor und für das Groteske ausgestatteten Gemälde geriet
1970 zum New Yorker Kunstskandal. Den „Verrat“ an der Abstraktion verübelten
ihm viele Kritiker. Bis heute übt Gustons rätselhaftes Spätwerk in seiner
Intensität und verstörenden Kraft großen Einfluss auf viele jüngere Künstler
aus.
Philip Guston wird 1913 als Sohn einer russisch-jüdischen Familie in
Montréal, Kanada, mit dem Namen Philip Goldstein geboren. Er wächst in Los
Angeles auf und zeigt schon früh malerisches Talent. Der Besuch einer
Kunstschule scheitert an seiner künstlerischen wie persönlichen
Eigenwilligkeit. Zeit seines Lebens ist Gustons Schaffen geprägt durch eine
intensive Beschäftigung mit der europäischen Kunstgeschichte. Zu seinen
Vorbildern zählen >> Pablo Picasso * 1881 Málaga † 1973 Mougins, >> Max Beckmann * 1884 Leipzig † 1950 New York und Giorgio de Chirico, aber auch
Goya und Rembrandt. Guston reist nach Italien, um sich mit den Renaissance- und
Barockmalern Giotto, Piero de la Francesca und Tiepolo auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig gilt sein Interesse den mexikanischen Muralisten. Dieses geht
einher mit einem starken politischen Engagement, wobei er mit links gerichteten
Gruppierungen und Künstlern sympathisiert. 1936 nimmt er den Künstlernamen
Guston an und zieht an die Ostküste. In den 1950er-Jahren fasst er Fuß in der
Kunstszene von New York. Er wird zu einem der bedeutendsten Vertreter des
Abstrakten Expressionismus mit Weggefährten wie >> Jackson Pollock, Willem de
Kooning oder Robert Motherwell. In den Augen der Kritik fällt seine spätere
Abkehr von dieser für Amerika so entscheidenden künstlerischen Strömung umso
schwerer ins Gewicht. 1965 stürzt Guston in eine malerische Sinnkrise und
konzentriert sich für gut zwei Jahre auf das Zeichnen. Erst in den späten
1960er-Jahren wendet er sich wieder verstärkt der Malerei zu, nun kehrt die
Figuration in sein Werk zurück. Die erste Ausstellung dieser neuen Bilder 1970
stößt selbst im eigenen Umfeld auf Unverständnis und ruft in der Kunstkritik
feindselige Reaktionen hervor. Erst Ende der 1970er-Jahre wird das Potenzial
dieser anspruchsvollen Gemälde erkannt.
1980, kurz vor seinem Tod, widmet das San Francisco Museum of Modern
Art Guston eine große Retrospektive. Die letzte umfassende Ausstellung im
deutschsprachigen Raum zum Œuvre Gustons fand 1999 in Bonn statt.
„Ich hatte diese ganze Reinheit satt. Ich wollte Geschichten erzählen.“
Mit rund 650 großformatigen Gemälden und Hunderten von Zeichnungen
stellt sich Gustons Spätwerk als seine insgesamt produktivste Schaffensphase
dar. Aus einer veränderten Motivwelt heraus entwickelten sich neue Ideen. Zum
einen drang nun die in Gustons Kindheit zurückreichende Beschäftigung mit
teilweise skurril-gewalttätigen Comics an die Oberfläche, zum anderen durchwob
er seine Arbeiten mit einer Vielzahl von Allegorien und Symbolen: Tätige,
übergroße Hände, die etwa wie das Jüngste Gericht mit ausgestrecktem Finger vom
Himmel zeigen; Uhren, die wie ein Memento Mori die verrinnende Zeit vor Augen
führen; Glühlampen, die das Licht der Erkenntnis und die spontane Idee
versinnbildlichen; brennende Zigaretten als Symbol für die Kürze des Lebens,
das sich umso schneller verbraucht, je intensiver man lebt; fragmentarische
Gliedmaße, die an Massaker und ausufernde Gewalt denken lassen. Der
hochgebildete Künstler spielt mit der Symbolik dieser Motive, gibt dem
Betrachter jedoch keinerlei Deutungsansatz für seine allegorische Bildsprache
an die Hand. Durch eine scheinbar primitive Motivwahl und comichafte Szenerien
schafft er Distanz, vermischt High and Low und irritiert so die Erwartungshaltung
des Betrachters.
„Mein ganzes Leben beruht auf Angst-wo sonst soll Kunst herkommen,
frage ich Sie?“
Über die Beweggründe für Gustons künstlerische Ausrichtung und seinen
Richtungswechsel ist viel spekuliert worden. So sah man den Grund etwa im
lebenslangen Kampf Gustons gegen die Depression, ausgelöst durch tragische
Kindheitserlebnisse, oder in einer Identitätskrise, unter anderem hervorgerufen
durch den Namenswechsel Mitte der 1930er-Jahre. Gesichert scheint, dass sein
gesamtes Leben durch Melancholie und schwarzen Humor gekennzeichnet war. Doch
wie vielen Künstlern gelang es Guston alle Zweifel, Ängste und Konflikte
produktiv in eine große Zahl ausdrucksstarker Bilder einfließen zu lassen. Dies
zeigt sich vor allem auch an den vielen Selbstporträts, die sich in Gustons
Spätwerk finden. Letztere erinnern an verfremdete, zyklopenhafte Figuren,
traurige Riesen mit überdimensionalen Köpfen. Dabei zeigt der Künstler sich
bevorzugt in düsterer Stimmung, bei übermäßigem Essen, Trinken und Rauchen als
Obdachloser oder mit Maske. Unterstrichen wird dieser schonungslose Umgang mit
der eigenen Person durch die großen Formate dieser Arbeiten, die gewissermaßen
viel Raum für die Analyse des Ichs lassen. Ebenso betont dies noch das vom
Künstler bevorzugte Cadmiumrot, das, mit Weiß abgetönt ins Rosa verwischt,
bewusst zur „Un“-Farbe wird. Es intensiviert den Ernst und die Schwere
dargestellter Szenen und steigert eine skurrile Wirkung bis ins Absurde.
Dramatisch und effektvoll verstärkt Gustons bevorzugte Farbpalette aus Schwarz
und Rot die Strategie des Unterlaufens, der Brüche und Überraschungen.
„Ich male also, was ich sehen will.“*
Entfremdung, Kombinatorik und Metamorphose – drei Grundprinzipien des
Surrealismus, die auch in Gustons Spätwerk immer wieder zu finden sind. Der
Künstler setzt unerwartet Gegenstände zusammenhangslos ins Bild. Ständig
scheint sich das einzelne Objekt zu verändern. Guston ruft Irritation und
Unsicherheit hervor, erzeugt zugleich aber auch überraschende Momente und
Mehrdeutigkeit. Hiermit setzt er gezielt gedankliche und psychologische
Prozesse beim Betrachter in Gang. Guston selbst äußerte, dass das Unbewusste am
Gelingen einer Arbeit beteiligt sei und sich mit Macht in seine Bilder dränge.
(Text: Schirn Kunsthalle Frankfurt)